Im vierten Beitrag zu unserer Reihe „Flucht und Migration“ sprechen wir mit Olga Reinhard aus Münster, die vor fast 30 Jahren nach Deutschland übersiedelte. Sie hat in Münster schon auf der SPD-Liste für den Gemeinderat kandidiert und steht dem Ortsverein mit Rat und Tat zur Seite.
Wo kommst du her, Olga?
Geboren wurde ich im russischen Lukino, das zwischen Moskau und Sankt Petersburg liegt. Ich war aber noch ganz klein, als meine Eltern in den Donbas übersiedelten, weil mein Vater im Bergbau Arbeit gefunden hatte. Der Donbas und die gesamte Ukraine gehörten damals in den sechziger Jahren zur Sowjetunion.
Erst 1991, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, wurde die Ukraine unabhängig. Das Donezbecken, kurz Donbas, liegt im äußersten Osten der Ukraine und war einst ein wichtiges Industrie- und Steinkohlezentrum der Sowjetunion. 2014 brach ein Krieg aus, in dem pro-russische Verbände für die Abspaltung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk von der Ukraine kämpften. Die Spanungen halten bis heute an.
Was hast du für eine Ausbildung gemacht?
Mit 17 ging ich nach Rostow-am-Don, um Architektur zu studieren. Danach habe ich vier Jahre lang in Wladikawkas im Kaukasus als Architektin gearbeitet. 1989 machte ich Urlaub in Prag, wo ich meinen jetzigen Mann Klaus Reinhard kennenlernte. Damals hatte ich noch nicht vor, Russland zu verlassen. Doch in den nächsten beiden Jahren reifte der Plan, nach Deutschland überzusiedeln. Im Jahr 1992 war es dann so weit.
Wie hast du Deutsch gelernt?
Ich hatte in Russland schon einen Deutschkurs gemacht und nahm auch in Creglingen zunächst Unterricht. Mit meinem Mann habe ich anfangs überwiegend Englisch gesprochen. Zum Glück lebten wir anfangs mit meinen Schwiegereltern zusammen. Bei ihnen lernte ich nicht nur Deutsch, sondern auch gleich Creichelmerisch. Wir zogen dann zunächst nach Neusitz, bauten aber in Münster ein eigenes Haus. Als Architektin kannte ich mich damit gut aus und verbrachte viel Zeit auf dem Bau. In Münster fühlte ich mich gut aufgenommen. Mein Mann war in Münster gut vernetzt, und mir war das Dorfleben auch nicht fremd. Die Leute haben es mich nicht spüren lassen, dass ich fremd war. Das hat mir auch das Deutschlernen erleichtert.
Konntest du in deinem Beruf arbeiten?
Mein Diplom wurde zwar anerkannt, aber ich konnte nie in meinen Beruf zurückkehren. In der Zeit nach der Wende war es schwierig, Arbeit zu finden. Ich bekam nicht einmal ein Praktikum, wahrscheinlich, weil man mir die Arbeit sprachlich nicht zutraute. Da wir zwischen 1992 und 2003 vier Kinder bekamen, beschloss ich, die Architektur abzuschreiben und mich zunächst der Kindererziehung zu widmen. Neben dem Hausbau und dem Spracherwerb habe ich auch viel Kunst gemacht.
Wie sieht deine berufliche Tätigkeit heute aus?
Ich kümmere mich in der warmen Jahreszeit 30 Stunden in der Woche um die Herrgottskirche: Büro- und Telefondienst, die Organisation von Führungen und so weiter. Das macht mir Spaß, weil ich mit Menschen zusammenkomme. Vor einiger Zeit habe ich mich zusätzlich in Rothenburg zur Gästeführerin ausbilden lassen. Seither gebe ich auf freiberuflicher Basis Rothenburg-Führungen auf Deutsch und Russisch.
Eines der Angebote für Gästeführungen findet sich im Internet unter: https://www.walburga-rothenburg.de
Welche Rolle spielt deine Herkunft für deine hiesige Familie?
Meine Kinder haben alle Russisch gelernt, mündlich recht gut, schriftlich mehr schlecht als recht, denn leider gibt es in den Schulen keinen Russischunterricht. Früher haben wir jedes Jahr in der Ukraine Urlaub gemacht, oft auf der Krim. Doch seit Russland die Krim annektiert hat und die Lage im Donbas angespannt ist, fahren wir nicht mehr hin. Eine unserer Töchter hat nach dem Abitur in Kiew ein freiwilliges soziales Jahr in einem Kinderheim gemacht, ein Pilotprojekt des ukrainischen Staates.
Wie oft siehst du deine Eltern?
Ich fliege einmal im Jahr nach Russland und fahre von dort in den Donbas. Seit dem Tod meines Vaters 2018 lebt meine Mutter allein. Sie bekommt ihre Rente und hat alles, was sie braucht, aber der Arbeitsmarkt in der Region ist völlig zusammengebrochen, Infrastruktur und medizinische Versorgung sind von Russland abhängig, abends herrscht eine Ausgangssperre.
Du engagierst dich in Creglingen in der Flüchtlingshilfe. Warum?
Als 2014 der Krieg in der Ost-Ukraine ausbrach, waren auch Angehörige von mir von Flucht betroffen. Für mich war sofort klar, dass ich Menschen, die vor Krieg, Gewalt und Armut nach Deutschland fliehen, helfen muss. Ich mache Fahrdienst, habe auch schon mal eine Wohnung vermittelt und Deutschunterricht gegeben.
Wo ist deine Heimat?
Seit 2001 bin ich deutsche Staatsbürgerin. Als ich den deutschen Personalausweis beantragte, musste ich die russische Staatsbürgerschaft abgeben. Meine Heimat ist Russland. Aber meine Heimat ist auch das Taubertal, wo ich in der Herrgottskirche und als Gästeführerin Menschen aus dem In- und Ausland unsere Kultur und Geschichte nahebringe.
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