Die Coronakrise wirft ein Schlaglicht auf Schattenseiten unserer Gesellschaft, die schon lange da sind und schon lange beklagt werden. Doch leider fehlte bislang der gemeinsame gesellschaftliche Wille, etwas daran zu ändern.
Hier soll es um das Gesundheitssystem gehen, und eines sei vorausgeschickt: Wir haben es in Deutschland sehr gut, verglichen mit manchem anderen Land. Viele beneiden uns um unser staatliches Gesundheitssystem und unsere gesetzliche Krankenversicherung. In den USA zum Beispiel werden viele Krankheitskosten nicht von der Versicherung abgedeckt, die Versicherung ist an den Job gebunden (und fällt daher in der Corona-Krise für Millionen von Arbeitslosen weg), und gut 30 Millionen Menschen sind trotz Obama-Care immer noch gar nicht versichert. Noch schlimmer sieht es in den unterentwickelten Ländern des globalen Südens aus, deren Gesundheitssystem am Boden liegt und die der Pandemie nichts entgegenzusetzen haben.
Das heißt aber nicht, dass in Deutschland alles Zucker ist. Das Gesundheitssystem blutete in den letzten zwanzig Jahren zunehmend aus, weil von Krankenhäusern und Pflegeheimen erwartet wird, dass sie schwarze Zahlen schreiben. Schon lange ist bekannt, dass immer weniger Personal in Krankenhäusern und Altenheimen beschäftigt ist, dass es schlecht bezahlt wird und durch Schichtarbeit und körperliche Anstrengung stark belastet ist. Das gilt nicht nur für Pflegerinnen und Pfleger, sondern auch für Krankenhausärztinnen und -ärzte. Die hohe Belastung führt dazu, dass die Betroffenen schnell das Weite suchen, ins Ausland gehen oder den Beruf resigniert aufgeben. Besonders Altenpflegerinnen halten in ihrer erlernten Tätigkeit selten bis zur Rente durch. Auch in den anderen Gesundheitsberufen herrschen Stress und Unterbezahlung: MTAs, Hebammen, Physiotherapeuten (die bis vor kurzem ihre Ausbildung auch noch selbst finanzieren mussten) können ein Lied davon singen, wie geizig das System mit ihnen umgeht.
Besonders schlimm ist die Lage in den Krankenhäusern und Pflegeheimen: Krankenhausärzte leisten Dauerschichten ab, die für sie, ihre Familien und letztlich auch für die Patientinnen unerträglich sind. Eine Pflegerin betreut 13 Patienten, in der Schweiz sind es 8, in den Niederlanden knapp 7. In den Altenheimen herrscht hoher Zeitdruck bei großer körperlicher Belastung, und nachts ist nicht selten eine Altenpflegerin für mehrere Stockwerke verantwortlich. Kein Wunder, dass sich die Deutschen mehrheitlich davor fürchten, im Alter ins Heim zu müssen. Am untersten Ende der Gesundheitsleiter befinden sich die Hebammen, die oft selbstständig arbeiten und bei unplanbaren Arbeitszeiten unsagbar schlecht verdienen. Kinderkriegen ist für Krankenhäuser kein lukratives „Geschäft“. Nur so lässt sich erklären, dass Frauen immer weniger Hebammen und Geburtsstationen finden, dass man sie bisweilen sogar wegschickt, wenn sie mit Wehen in einem Krankenhaus vorstellig werden. Jede Krankenhausschließung auf dem Land macht für Frauen das Kinderkriegen gefährlicher. Man darf schon mal ketzerisch fragen, ob die Lage so dramatisch wäre, wenn Männer Kinder gebären würden.
Eine Ursache für die hohe Arbeitsbelastung und die niedrige Bezahlung der Beschäftigten ist die Umstellung des Gesundheitssystems in den letzten zwei Jahrzehnten. Krankenhäuser sollen schwarze Zahlen schreiben, Privatkliniken haben sich auf lukrative Operationen spezialisiert. Eine gebärende Frau oder ein Coronapatient kann da nicht mithalten. Fallpauschalen verwandeln Ärzte in Unternehmer, und manch teure Operation wird (vor allem an Privatpatienten) häufiger durchgeführt, als es medizinisch sinnvoll wäre. Und wenn Sparen angesagt ist, wird seit Jahren immer zuerst Personal abgebaut. Es ist viel Geld im System, aber nicht immer da, wo es sinnvoll wäre.
Während in Deutschland teuer ausgebildete Mediziner/innen und Pfleger/innen seit Jahrzehnten zum Beispiel in die Schweiz oder nach Schweden abwandern, wo Arbeitsbedingungen und Bezahlung deutlich besser sind als in Deutschland, werben deutsche Gesundheitsminister Personal aus ost- und südeuropäischen, aber auch aus außereuropäischen Ländern ab. Die Menschen folgen verständlicherweise dem Geld und fehlen so in ihrem heimischen Gesundheitssystem. Aktuell haben diese Länder nicht das Personal, um in der Coronakrise die eigene Bevölkerung zu versorgen.
In der Krise wird auch dem Letzten klar, dass die Beschäftigten im Gesundheitssystem im Zweifelsfall ihr Leben riskieren: Wer oft mit Patienten Kontakt hat (auch zum Beispiel in einer Apotheke), hat grundsätzlich ein höheres Erkrankungsrisiko. Das Robert-Koch-Institut warnte schon 2012 vor einer Pandemie durch einen sich rasch ausbreitenden Coronavirus, die das Gesundheitssystem an seine Grenzen bringen könnte. Es listete mögliche Schwachstellen auf: Schutzkleidung, Gesichtsmasken, Beatmungsgeräte, Notfallbetten und so weiter.[i]
Dass im März auch in Deutschland Schutzkleidung, Masken und sogar Desinfektionsmittel rar wurden, liegt daran, dass man die Krankenhäuser nicht entsprechend vorbereitet hatte. Betten, Geräte und Medizinprodukte, die nur für den Notfall vorgehalten werden, kosten Geld. Wie soll ein Gesundheitssystem, das darauf getrimmt ist, schwarze Zahlen zu schreiben oder gar Gewinne zu machen, das leisten? Und wenn dann noch rund um den Erdball dieselben Materialien fehlen, ist es schwierig, Versäumtes nachzuholen. So kommt es, dass heute für die benötigten Materialien mit unser aller Steuergeld das Doppelte oder Dreifache bezahlt werden muss.
Da Pharmafirmen die Herstellung von Medikamenten schon vor Jahen ins billige Ausland verlegt haben, sind einige Arzneimittel in Deutschland Mangelware. Nicht nur lebenswichtige Medikamente, sondern auch Schutzkleidung und andere medizinische Hilfsmittel müssen künftig dringend wieder im Inland oder zumindest in Europa produziert werden. Dafür ist ein Gesetz notwendig, denn die Annahme, dass irgendein Unternehmen freiwillig auf Profit verzichtet, ist völlig unrealistisch.
Wenn künftig Menschen, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um andere zu retten, wenigstens anständige Arbeitsbedingungen und eine angemessene Bezahlung erhalten sollen, wenn für Notfälle Kapazitäten vorgehalten werden sollen, dann muss sich auch am derzeitigen Gesundheitssystem einiges ändern. Und hier richtet sich die Kritik nicht nur gegen „die Politik“, sondern auch gegen die Kassenärztliche Vereinigungen, die in dem Versuch, ihre eigenen Pfründe zu sichern, bisweilen die Patienten aus dem Blick verlieren. Wie die Gelder unter den Ärzten verteilt werden, entscheiden zu einem guten Teil die KV. Hausärzte und Kinderärzte, die im Zweifel Tag und Nacht für ihre Patienten da sind und eine wichtige Weichenfunktion im System haben, kommen hier besonders schlecht weg.
Änderungen am System betreffen zum einen die Einnahmenseite: Eine Bürgerversicherung, in die alle Menschen im Lande einzahlen, wäre eine mögliche Lösung. Privatversicherungen müssen abgeschafft beziehungsweise auf Zusatzversicherungen umgestellt werden (wer unbedingt eine Chefarztbehandlung oder ein Einzelzimmer haben will, kann das ja auch künftig versichern). Auf der Ausgabenseite müssen die Fallpauschalen und die Kassenärztlichen Vereinigungen auf den Prüfstand, damit Anreize für teure Operationen wegfallen und das Geld im System wieder gerechter verteilt wird.
Das ist natürlich alles andere als einfach. Die Privatkrankenkassen sind eine einflussreiche Lobby, und auch die Kassenärztlichen Vereinigungen geben ihre Macht nicht so einfach her. Aber vielleicht gibt die derzeitige Krise dem einen oder der anderen Gesundheitspolitikerin einen Schubs. Wir Patientinnen und Patienten haben jedenfalls schon lange verstanden, dass die Menschen, die uns am Leben halten, eine bessere Behandlung verdient haben.
[i] https://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/120/1712051.pdf
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